Klassenzimmer unter Segeln: Lernen über den Horizont hinaus

189 Tage hab mich mal gesagt. Genauer gesagt, Anfang Oktober, als ich meinen ersten Text über KuS geschrieben hab. Damals dachte ich, dass ich bereits wusste, was auf mich zukommt. Irgendwie hab ich das ja auch. Hab darüber gelesen, Bilder gesehen, die Serie in der ARD Mediathek angeschaut und wir besessen die Blogs gelesen.

Aber jeder Sonnenaufgang hatte intensivere Farben, als man je hätte festhalten können. Jeder Geruch machte neugieriger, als man hätte vermuten können. Jeder Mensch war interessanter, als man gedacht hätte. Jede Erfahrung prägender, als man es in dem Moment dachte. Das war Klassenzimmer unter Segeln. Auf meinem Zuhause, der Thor Heyerdahl.

Vor 189 Tagen war ich anders und doch gleich. Wenn man Dinge erlebt, die einen so prägen und die so anders sind als alles, was man bisher kannte, ist Veränderung unausweichlich. Ich möchte euch von einigen Dingen erzählen, die ich erlebt habe.

Ich erzähle es euch chronologisch. Mein letzter Schultag war komisch. Ich bin nach Hause und anstatt Hausaufgaben zu machen, habe ich einen 120l Seesack, einen 70l Trekkingrucksack und einen 30l Tagesrucksack mit all meinen Sachen vollgepackt. Denkt bloß nicht, dass das viel ist. Neben Klamotten, Schuhen und Schulsachen mussten Ölzeug, Gummistiefel, Moskitonetze, Bettbezüge, Wanderschuhe, Bilder, Hängeregale, Bücher, Spiele und für manche auch Musikinstrumente mit. Nach Hause war es noch mehr, denn man wollte ja aus jedem Land etwas mit nach Hause nehmen. Also ja, es war ein Kampf. Und dann ging es los. 8 Stunden mit dem Bus nach Kiel, verschiedene Arbeiten am Schiff erledigen, die Thor zum ersten Mal sehen und schließlich verabschieden. Noch eine schnelle Feuerübung und dann ging es los. Ablegen und … weg. Das letzte, was ich von meiner Familie noch gesehen hab, war die leuchtend gelbe Regenjacke, die mein Papa an hatte.

Durch den NOK, auf die Elbe und die Nordsee, vorbei an Helgoland und dann Richtung Englischer Kanal. Und schließlich unser erster Landaufenthalt in Fallmouth, England. Scones, Fish’N’Chips und kühles Wetter, stereotypisch für England. Und für jeden von uns etwas ganz besonderes. Zum ersten Mal ohne die Eltern außerhalb der EU. Zum ersten Mal im Ausland und genau das machen, worauf man gerade Lust hat. Dann kam Lissabon. Einer der schönsten Landaufenthalte meiner Meinung nach. Pastel de Nata, kleine Törtchen mit Vanillepudding, Francescina und alte Straßenbahnen. Und dann waren wir wieder auf See auf dem Atlantik, so schnell ging das. Zum ersten Mal barfuß an Deck, zum ersten Mal kurzärmelig tragen, zum ersten Mal Sonnenbrand. Der erste „geplante“ Landaufenthalt.

Wir besuchten die Caldera des Teide, gingen am Strand baden, ich führte ein Interview mit Jaqueline, die Ehefrau vom verstorbenen Thor Heyerdahl, der Namensgeber unseres Schiffes.

Wir verproviantierten, denn für die nächsten 28 Tage, würden wir kein Land mehr sehen. Und so ging es los, über den Atlantik. Getragen vom Nord-Ost-Passat, konnten wir fast die ganze Zeit segeln. Gibt es keinen Wind, nennt man das Flaute. Und Flaute ermöglicht ein fast unvorstellbares Bild. Wenn der Ozean spiegelglatt ist, verschmilzt der Horizont mit dem Himmel und man kann nicht sagen, wo was davon anfängt oder aufhört.

Wir hatten für mehrere Tage einen Thunfischschwarm als Begleiter. Die Tiere sind Tag und Nacht neben uns her geschwommen! Wir haben unzählige Schildkröten, Fregattvögel und auch den ein oder anderen Wal gesehen. Und irgendwann, nach Wochen, konnten wir dann zum ersten Mal wieder etwas am Horizont ausmachen. Wir hatten die neue Welt, die kleine Insel Bequia, erreicht. Nach dem Ankermanöver konnten wir die 200 Meter an Land schwimmen. Und so verbrachten wir unsere Riff-Ferien auf den Tobago Cays, bevor wir kurz vor Weihnachten nach Panama aufbrachen. Weihnachten auf See. Ungewöhnlich. Aber Weihnachtsbraten, Wichteln und schön anziehen? Alles wie immer. Nur, dass es dieses Jahr im Sommerkleid war.

Panama ist in meinem Kopf mit grün verbunden. So eine Artenvielfalt, im Bezug auf Pflanzen und Tiere, habe ich noch nie gesehen. Wir haben erst ein paar Tage in einem Camp im Regenwald verbracht, bevor wir nach Panama City, dann weiter nach Boquete, zu unseren Gastfamilien, fuhren und schließlich noch bei den Naso Indigenen zu Besuch waren. Dort hat auch unser internationales Fußballspiel, um den Holzadler-Pokal, stattgefunden.

Nach einigen sehr windigen Tagen auf See, ging es in Maria la Gorda mit unserer Fahrradtour in Kuba los. Wir besuchten Höhlen, erkundeten Städte und verbrachten viel Zeit mit den Schülern der Friedrich-Engels-Schule in Pinar del Rio. Da haben wir auch mal gelernt, ordentlich zu tanzen! In Havanna konnten wir mehrere Tage durch die Altstadt bummeln, mit Oldtimer-Taxis fahren und das Kapitol besuchen. Und dann fing die Heimreise an. Durch den Floridastrom, vorbei an der Skyline Miamis und schließlich nach Bermuda, ein sehr kleinen Insel. Dort habe ich auch meinen Geburtstag gefeiert. Um 4 Uhr morgens (Local Time), geweckt wurde ich von einem Ständchen, gesungen von zwei meiner Freunde, rief ich meine Eltern und meine kleine Schwester an, um nochmals mit ihnen zu reden, bevor die nächste große See-Etappe anstand.

Und nach sehr rauer See, kaltem Wetter und wirklich wahnsinnig vielen Delfinen, waren da die Azoren. Eine kleine Inselgruppe mitten im Nordatlantik. Wir waren auf dem Pico, der wie eine Eiswüste aussah, besuchten das Peter Café Sport und erkundeten die Umgebung während unserer Expi (Expedition) in Kleingruppen. Außerdem haben wir uns an der Pier verewigt. Ich glaube ich habe nicht ein Mal den Kopf gehoben, wenn ich dort lang gegangen bin, denn überall sind Bilder und Sprüche von allen Seglern und Schiffen, die dort anlegen uns sich ihren eigenen kleinen Platz zum verewigen gesucht haben.

Eigentlich dachten wir, dass die nächsten knappen vier Wochen eine reine See-Etappe werden würden. Aber der brutale Gegenwind, hat da (zum Glück) nicht mitgespielt. Und so bogen wir südlich von England nach Norden ab und legten im kleinen Killybegs, Irland, an. Wir verbrachten einen Tag an Land, bevor es rund England und durch die äußeren Hebriden über Schottland Richtung Norwegen und dem Skagerrak ging. All das unter unserer Schüler-Schiffsführung, bei der ich erste Steuerfrau war. Unser Kapitän, ein weiterer Steuermann und ich waren also für Route und das Schiff im Allgemeinen verantwortlich. Während einer Schiffsübergabe, übernehmen Schüler, die sich bewerben mussten, die Positionen der Erwachsenen an Bord, die dann eher zurück treten und nur unterstützend wirken.

In der Ostsee haben wir noch kurz vor Dänemark geankert, um letzte Arbeiten für das Einlaufen zu erledigen. Und kam er, unser letzter Abend auf der Thor. Wir haben nochmal das Zusammensein, Musik, kulturelle Beiträge, also Gedichte oder ähnliches, genossen und uns über das hervorragende Essen gefreut. Am 19.04.2025 war es dann soweit. Wir zogen alle unser Ölzeug an, das letzte Mal unserer Klettergurt und kletterten ins Rigg, auf die Rahen. Nebeneinander stehend fuhren wir dann in die Schwentine ein, wo wir schon diese Masse an Menschen, unsere Familien, an der Pier ausmachen konnten. Wir gingen von Bord und umarmten erst mal alle, die wir so lange nicht gesehen hatten. Und dann, dann war man nach der langen Autofahrt zum ersten Mal wieder alleine in einem scheinbar viel zu großen Zimmer, wo es leise ist und niemand anderes. Es ist komisch, sich wieder umzugewöhnen.

Mindestens genauso komisch, wie mein „letzter Schultag“, der nun schon über sieben Monate her ist und seit dem sich einiges verändert hat: Ich bin durch unendlich viele Eindrücke geprägt worden, habe neue Dinge gelernt, mich unbekannte Sachen getraut, neue Blickwinkel erlangt aber vor allem: Vor allem habe ich Menschen kennengelernt, sowohl an Bord als auch in anderen Ländern, die so besonders sind, so interessant, dass ich sie nicht mehr vergessen werde.

Und ich habe Dinge über mich gelernt, die man meiner Meinung nach nur lernen kann, wenn man mutig ist, das bisher bekannte verlässt und den Blick dafür öffnet, was es eigentlich alles gibt und wie es uns beeinflusst. Ich möchte dazu ermutigen, die Dinge zu machen, die man machen möchte. Nur, wenn man seine Komfortzone verlässt, hat man die Chance, Neues zu lernen, egal, ob es ein konventioneller Weg ist oder etwas unkonventionelles: Man muss das machen, was einen weiter bringt.

– Hannah Büttner
Johannes Mann
gepostet am 4. Juni 2025