Wann ist ein Gedicht ein Gedicht? Wenn zwingend ein Endreim für diese Gattung notwendig wäre, dann fielen einige Veröffentlichungen von Nadja Küchenmeister wohl nicht darunter. Und doch wird bei der Lesung am 6. Februar 2025 mit der gebürtigen Ost-Berlinerin klar: Das, was sie uns da mit ruhiger Stimme vorträgt, ist voller Klang, Sinn und Bildern, zart und ausdrucksstark zugleich.
Sie nimmt das Publikum mit in ihre Poesie, die sich aus Eindrücken aus ihrem Alltag speist und ihre Liebe zur Sprache zelebriert. Von Wohnungsfluren mit einsamen Schuhen ist in ihren Gedichten die Rede, von Hinterhöfen großer Mehrfamilienhäuser mit Wäscheklammern und Klingelschildern, die das sprechende Ich gedanklich zurück in die eigene Kindheit führen. Und ganz am Ende fliegt sogar noch ein Werkzeugkoffer durch das Weltall. Ihre assoziativen Texte nutzen den vertrauten, natürlichen Klang der Alltagssprache und zeichnen sich doch aus durch ganz bewusst gesetzte Gleichklänge bei den Vokalen und eine beim Vortragen unüberhörbare Rhythmik.
Dazwischen nimmt sich Küchenmeister immer wieder Zeit für die Fragen der Schülerinnen und Schüler, die sich im Unterricht vor allem mit dem Gedicht „am grund“ befasst hatten. Offene Fragen nach Leerstellen und Mehrdeutigkeiten greift sie auf, zum Beispiel wer denn in diesem Gedicht „Herr Schatta“ sei, der seit 25 Jahren auf dem Friedhof liegt. Ihre Antwort: Ob es in ihrem Leben wirklich einen Herrn Schatta gegeben habe oder nicht, sei letztlich nicht entscheidend. Entscheidend sei die Bedeutung, die diese Figur für das Ich im Gedicht hat, nämlich dass sie nicht nur „irgendein Mann“ gewesen sei, sondern eben jemand mit einem Namen, und zwar einem ganz konkreten.
Den Jugendlichen vor ihr, die in ihrer Schullaufbahn immer wieder dazu gezwungen sind, Gedichte zu analysieren, gibt sie folgendes Credo mit: Nicht allein die Untersuchung von Stilfiguren und äußeren formalen Merkmalen ist es, was zeitgenössische Texte spannend macht, sondern das Gefühl, der Inhalt, der Klang, den sie transportieren. Sie ermutigt dazu, sich einem Gedicht erstmal ganz entspannt und »unerschrocken« zu nähern und sich von den formalen Aspekten nicht einschüchtern zu lassen, von dem Gedanken, dem Gedicht womöglich nicht gerecht zu werden, weil man auf den ersten Blick nicht gleich versteht, welche Form ihm zugrunde liegt.
Besondere Nähe zum Publikum gelingt ihr durch ihren vorsichtigen Humor, wenn sie von sich selbst sagt, sie würde zwar den Zustand lieben, Gedichte geschrieben zu haben, nicht aber den Moment, in dem sie einen Text erst noch verfassen muss. Auch sie empfindet es eher als unangenehm, Gedichte analysieren und über sie schreiben zu müssen. Zwar wisse sie noch, wie es sich anfühlt, 16 zu sein, aber wie es wohl sei, im Jahr 2025 jugendlich zu sein, könne sie sich kaum vorstellen, gerade was die Umbrüche in unserer Gesellschaft und in Hinblick auf die Digitalität angeht.
Insgesamt wird in den 80 Minuten Lesung und Gespräch klar, dass Nadja Küchenmeister nicht ohne Grund zu den Größen der Lyrikszene des 21. Jahrhunderts gehört. Ihre Gedichte sind von großer Tiefe und Schönheit, und mit ihrer Offenheit ist es ihr gelungen, die Poesie aus ihrem Elfenbeinturm in das Bewusstsein der Oberstufenklassen zu bringen und vielleicht doch dem einen oder der anderen die Scheu vor dieser Gattung zu nehmen.
Wie in den Vorjahren auch gilt der Dank der Schule unserem Verein der Freunde und Förderer und dem Elternbeirat, die neben den Elternhäusern einen Großteil der Finanzierung solcher Kulturveranstaltungen innerhalb des Unterrichts stemmen. Nur dadurch ist es uns immer wieder möglich, Künstlerinnen und Künstler ans MGL zu holen und hautnah erfahrbar zu machen.